Geschlechterperspektiven in der Fachdidaktik – HOPPE et al (JESSE)

HOPPE, Heidrun; KAMPSHOFF, Marita; NYSSEN, Elke, Hg. Geschlechterperspektiven in der Fachdidaktik. Weinheim, Basel: Beltz Wissenschaft Deutscher Studienbuch Verlag (Einführung in die pädagogische Frauenforschung; Bd. 5), 2001. 240 S. Resenha de: LIEBSCH, Katharina. Journal of Social Science Education, v.2, 2003.

Die Frauen- und Geschlechterforschung bemüht sich seit Jahren um die Verbreitung der Einsicht, dass “Geschlecht” sowohl eine grundlegende sozialstrukturelle Kategorie als auch eine zentrale Dimension im Prozess der sozialen Konstruktion von Gemeinschaften und Gesellschaft ist. Folgt man dieser Einschätzung, dann ist es geradezu zwangsläufig, dass auch die Reflexion von Lehren und Lernen sowie deren Planung und Steuerung ein Verständnis von “Geschlecht” braucht. Dazu gehört auch, so lautet die Ausgangsannahme des von Heidrun Hoppe, Elke Nyssen und Marita Kampshoff (alle Universität Essen) herausgegebenen Aufsatz-Bandes, eine Erweiterung der kritischen Betrachtung von Koedukation um Fragen der Allgemeinen Didaktik sowie der Fach-Didaktiken der sozialwissenschaftlichen und sprachlichen Unterrichtsfächer.

Unter dem Titel “Geschlechterperspektiven in der Fachdidaktik” veranschaulichen vierzehn Autorinnen, dass Gegenstände, Methoden und Gestaltungsformen schulischen Unterrichts in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Entwicklungen, der Veränderung von Lebenswelten und dem sich wandelnden Verständnis von Bildung in der Gesellschaft eingesetzt und bewertet werden. Eine theoretisch-systematische Reflexion von Fragen der Technikentwicklung, der Globalisierungsfolgen genauso wie der Veränderungen des gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisses gehört deshalb zu den Ausgangspunkten jeder didaktischen Überlegung. Darüber hinaus, so das Credo der Herausgeberinnen, sollte es – sowohl auf der Ebene der curricularen Inhalte als auch hinsichtlich der jeweils spezifischen Lernbedingungen von Schülerinnen und Schülern – ein zentrales Anliegen von Didaktik sein, “die Beziehung zwischen Inhalten und Subjekten wissenschaftlich differenziert zu untersuchen und in praxiswirksame Modelle zu integrieren” (S. 236). Diese doppelte Perspektive von Inhalten einerseits und Bedingungen und Möglichkeit der Inhaltsvermittlung andererseits suchen die Herausgeberinnen aus einer geschlechts- und subjektorientierten Perspektive systematisch zu stärken. Erst, so lautet ihre These, wenn Fachdidaktiken sich konsequent an den Subjekten von Schule und Unterricht, nämlich an den Schülerinnen und Schülern und die Lehrerinnen und Lehrern, orientiert, kann die didaktische Frage beantwortet werden, wie Fachunterricht arrangiert sein muss, damit seine Inhalte mit den Vorerfahrungen und Kompetenzen der Beteiligten zusammen gebracht werden kann. Dazu braucht es einerseits ein Curriculum, das das kulturelle und soziale System der Zweigeschlechtlichkeit reflektiert und die Reflexion und Überwindung ungleicher Machtkonstellationen zum (Lern-)Ziel macht. Andererseits müssen geschlechtsdifferente Interessen, Erfahrungen und Sozialisation in fachdidaktische Überlegungen miteinbezogen werden.

Dementsprechend reflektieren die zehn in dem Band versammelten Beiträge ihre jeweilige Fachdidaktik unter drei Fragestellungen: Zum einen wird unter Bezugnahme auf die spezifische Fachwissenschaft die Kritik der fachspezifischen Frauen- und Geschlechterforschung dargestellt.

Forschungsergebnisse beispielsweise der feministischen Theologie und Literaturwissenschaft werden herangezogen, um zu veranschaulichen, dass die jeweilige Fachwissenschaft selbst einem Geschlechter-bias dergestalt unterliegt, dass das Männliche in der Regel als die Norm und das Weibliche als die Abweichung von der Norm begriffen wird. Zum zweiten werden Befunde präsentiert, die auf der Ebene der Unterrichtsinhalte eine Geschlechterdifferenz wahrnehmen und sie zum Gegenstand des Nachdenkens machen. Dabei besteht sowohl die Möglichkeit, Geschlechterstereotypen neu zu produzieren und festzuschreiben als auch die Chance, sie aufzulösen und ihnen entgegen zu wirken. Drittens schließlich thematisieren alle Beiträge die Bedeutung von Sozialisation und fragen nach möglicherweise vorhandenen geschlechtsdifferenten Interessen, Erfahrungen und Lebenswelten und deren Auswirkungen auf den Schul-Unterricht und dessen Erfolge.

Konzentriert auf sozialwissenschaftlich und sprachlich ausgerichtete Disziplinen wird hier erstmalig ein Überblick präsentiert, der einen aktuellen Einblick in den Stand des Geschlechterthemas in ausgewählten Fachdidaktiken gewährt. Dies ist zum einen verdienstvoll, weil in dem vorliegenden Band eine in der Debatte lange Zeit dominierende Tendenz überwunden wird, fachdidaktische Überlegungen zum Thema “Geschlecht” am Beispiel naturwissenschaftlicher und technischer Unterrichtsfächer anzustellen und so erneut, ein geringeres Interesse von Mädchen an diesen Fächern zu einer Abweichung und Besonderung zu machen. Vielmehr kann durch eine Fokussierung auf Fächer, die Sprache und Soziales zum Gegenstand haben, die Frage neu gestellt werden, ob und inwieweit sich im Unterricht geschlechtliche Codierungen, Zuschreibungen oder auch Erfahrungen ausmachen lassen. Es kann deshalb als ein überraschendes Ergebnis dieses Sammelbands gelten, dass alle in dem Band versammelten Beiträge sichtbar machen, dass eine in der Fachwissenschaft etablierte Frauen- und Geschlechterforschung kein Garant dafür ist, dass auch die entsprechende Fachdidaktik sich mit Fragen der Geschlechterdifferenz auseinander setzt.

So theoretisch anspruchsvoll, innovativ und bedeutsam die feministischen Ansätze in z.B. der Germanistik, Anglistik, Geschichtswissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft auch gewesen sein mögen, die schulische Ausgestaltung dieser Disziplinen als Unterrichtsfächer haben sie nur am Rand beeinflussen können.

Dies ist ein weiteres Argument für ein Verständnis von Didaktik, welches die Orientierung an der Fachwissenschaft zwar als grundlegend aber keinesfalls als hinreichend begreift. Da die Geschlechterperspektive quer zu allen Fragen des schulischen Lehren und Lernens liegt und sich in Inhalten, Sozial-Beziehungen wie auch in Normierungen und Bewertungen aufzeigen lässt, kann sie nur dann Berücksichtigung in der Fachdidaktik erfahren, wenn die Fähigkeit zur Analyse der Bedingungen und der Situationsspezifik von Unterrichts wie auch der biografischen Besonderheiten der Beteiligten als eine zentrale pädagogische Qualifikation begriffen werden. Dazu ist Wissen über die Mechanismen einer allumfassenden “sozialen Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit” (Hagemann-White) genauso nötig wie der politische Wille, Mädchen und Jungen als gleichberechtigt zu begreifen wie auch die Fähigkeit, über die eigene persönliche Verstrickung mit der Thematik zu reflektieren. “Geschlechterperspektiven in der Fachdidaktik” umfassen demzufolge die Thematisierung der gesamten Palette der Wechselwirkungen zwischen Person und Rolle, Lehren und Lernen, Inhalt und Beziehung, Situation und Norm.

In dieser Hinsicht und mit diesem Anspruch beschreiben Rita Burrichter (Religion), Susanne Thurn (Geschichte), Gudrun Spitta (Deutsch), Heidrun Hoppe/Astrid Kaiser (Sachunterricht/Sozial- bzw.

Gemeinschaftskunde), Renate Haas (Englisch), Cornelia Niederdrenk-Felgner (Mathematik), Gertrud Pfister (Sport), Doris Lemmermöhle (Arbeitslehre/Berufsorientierung), Renate Luca (Medienpädagogik) und Petra Millhofer/Renate-Berenike Schmidt (Sexualpädagogik) den Stand der Reflexionen in der jeweiligen Fachdidaktik.

Dabei wird sichtbar, dass diejenigen Themen, die quer zu der herkömmlichen Einteilung in Schulfächern liegen, wie z.B. Medien, Sexualität, Berufsorientierung, sich für die Thematisierung der Geschlechterfrage leichter öffnen lassen. Da der Alltags- und Erfahrungsbezug bei diesen Themen unmittelbar gegeben ist, braucht es für die Plausibilisierung der Geschlechterfrage im berufsorientierenden, sexualpädagogischen oder medienpädagogischen Unterricht weniger argumentativen Aufwand als beispielsweise in den Fachdidaktiken für Englisch oder Politik.

Während sich, wie die Beiträge zeigen, in den Fächern die Macht der Tradition hartnäckig hält – beispielsweise als geschlechtsspezifische Stereotypen hinsichtlich Unterrichtsinteresse und hinsichtlich Arbeitsformen auftaucht und sich daran ablesen lässt, dass sogenannte Frauenthemen häufig als Ergänzung und als partikulares Wissen behandelt werden – haben Themen mit einem deutlichen lebensweltlichen Bezug den Vorteil, dass hier Bedeutung, Funktion und Wandelbarkeit der Kategorie Geschlecht unmittelbar als Thema aufgegriffen und werden kann. Beispielsweise kann im berufskundlichen Unterricht nicht unproblematisiert bleiben, dass die meisten weiblichen Auszubildenden unter den Friseurinnen und die meisten männlichen Auszubildenden unter den Kfz-Mechaniker zu finden sind, während dieser Sachverhalt im Gemeinschafts-. Politik- oder Sozialkundeunterricht im Rahmen einer Arbeitseinheit zum Thema “Arbeit und Beruf heute” durchaus unberücksichtigt bleiben könnte.

Die Fachdidaktiken stehen daher – und das macht dieser Band schlagend deutlich – vor einem doppelten Dilemma: Die fachspezifische Gegenstandsorientierung soll zum einen Bezüge zu den Lebenswelten und Erfahrungen der Lernenden herstellen. Zum zweiten soll sie sich an der Fachwissenschaft orientieren, die es im Singular, als einheitlichen Orientierungsrahmen schon längst nicht mehr gibt. Dieser Schwierigkeit begegnen die Fachdidaktiken, indem sie Prinzipien postulieren, z.B. das Prinzip der Wissenschaftsorientierung oder das der Handlungsorientierung.

Der vorliegende Band plädiert für Geschlechtergerechtigkeit als ein weiteres didaktisches Prinzip.

Darüber hinaus aber drängt sich nach der Lektüre dieses anregenden und gehaltvollen Buches die Frage auf, ob sich diese Prinzipien nicht viel besser jenseits der Fächer realisieren ließen, ob die Fachdidaktiken nicht einer curricularen Festlegung fächerübergreifender Themengebiete wie auch einer systematischen Reflexion situativer Lehr-/Lernbezüge weichen sollten.

“Geschlechterperspektiven” könnten darin als ein didaktisches Element enthalten sein. Dies würde den mühseligen fachinternem Kampf um Anerkennung des Geschlechterthemas zwar nicht überflüssig machen, könnte aber eine didaktische Sensibilität hinsichtlich sozialer Unterschiede und sozialen Unterscheidungen schaffen. Denn diese sind, das zeigen alle Aufsätze des Sammelbandes, stets geschlechtlich codiert.

Katharina Liebsch

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