Urteilsbildung im Politikunterricht. Ein multimediales Projekt – KUHN; GLOE (JESSE)

KUHN, Hans-Werner; GLOE, Markus. Urteilsbildung im Politikunterricht. Ein multimediales Projekt. (Buch, Video, CD). Schwalbach/Ts: 2002. Resenha de: RETZMANN, Thomas. Urteilsbildung im Politikunterricht. Journal of Social Science Education, v.3, n.2, p.143-146, 2004.

In fachdidaktischen Lehrveranstaltungen an der Hochschule oder im Studienseminar – aber auch in der Lehrerfortbildung – steht man als Dozent immer wieder vor dem Problem, dass die Vermittlung didaktischer Modelle ohne entsprechendes Anschauungsmaterial leicht als bloße Theorie interpretiert wird. Dies gilt besonders dann, wenn die Studierenden über keinerlei Anschauung von (Fach-) Unterricht aus der Perspektive des Lehrenden verfügen. Es besteht die Gefahr, dass sie sich träges Wissen aneignen, welches bei der eigenen Unterrichtspraxis nicht handlungsleitend ist.

Um es in einem Satz gleich vorweg zu sagen: Mit dem vorliegenden Medienpaket aus Buch, Video und CD-ROM kann dieses Anschauungsproblem fachdidaktischer Lehre überwunden werden.

Beschreibung des Medienpakets Im Buch wird das Konzept des Politikzyklus‘ als Modell für die Sachanalyse des Politikunterrichts vom Autor Hans-Werner Kuhn (Professor für Politische Bildung/Sachunterricht an der Pädagogischen Hochschule Freiburg) systematisch entfaltet. Gleiches gilt für das Lernziel der politischen Urteilsfähigkeit. Verschiedene AutorInnen wenden das Analysemodell auf ein Beispiel an: die seinerzeit politisch umstrittene Auslieferung des in England inhaftierten ehemaligen chilenischen Diktators Augusto Pinochet an Spanien. Schließlich enthält das Buch noch die Transskripte zweier Unterrichtsstunden in zwei neunten Klassen eines Berliner Gymnasiums.

Der Autor gibt eine fachdidaktische Interpretation von Schlüsselszenen des Unterrichts. Erwähnenswert ist der Abdruck von drei Interviews, die der Autor mit Fachdidaktikern aus der ersten und zweiten Phase der Lehrerbildung geführt hat. Das Buch schließt mit zwei Beiträgen von Hans-Werner Kuhn, in denen er professionelle politische Urteile in Tageszeitungen sowie fünf Unterrichtsstrategien (Metakommunikation, Professionelle Urteile, Karikatur, Planspiel, Pro-Contra-Debatte) erörtert.

Das vierstündige Videoband führt die beiden Unterrichtsstunden vor (sowohl geschnitten als auch komplett) und veranschaulicht somit die unterrichtlichen Auswirkungen der spezifischen Vorgehensweise (Politikzyklus) bei der Sachanalyse des Unterrichtsgegenstandes (Entscheidung über das Auslieferungsersuchen der spanischen Behörden).

Zudem enthält das Video die drei o. g. Interviews zu mehreren Fragekomplexen (“Guter” Politikunterricht, Unterrichtsstrategien, Lehrerausbildung, Bürgerleitbilder, Sozialisation, Unterrichtsanalyse usw.).

Die CD-ROM ergänzt diese Medienkombination um eine Lernumgebung mit interaktiven und multimedialen Elementen. Die Autoren dokumentieren zunächst den Unterricht, unter anderem durch Skizzen zu Unterrichtsplanung und -verlauf sowie anhand ausgewählter Audio-/Videosequenzen.

Vor allem bieten sie aber sechs verschiedene Lernwege an, um sich die Inhalte zu erschließen: den deduktiven, induktiven, symbolischen, mehrperspektivischen, handlungsorientierten und den genetischen Lernweg. Jeder Lernweg kombiniert die vorhandenen Medien in einer einzigartigen Form. Darüber hinaus enthält die CD-ROM eine Einführung in die o. g. Unterrichtsstrategien sowie einen Materialpool mit Arbeitsblättern, Verlaufsschemata, Karikaturen, Checklisten usw.

Bewertung des Medienpakets Die verschiedenen Medien wurden von den Autoren inhaltlich gut aufeinander abgestimmt. Ihre Kombination nutzt die spezifische Vorteile des jeweiligen Mediums.

Für sich genommen würde das Buch zwar viel Anregendes, wenn auch wenig Aufregendes bieten. Stünde es jedoch für sich allein, so könnte der Kommentar auch lauten: Noch ein Buch über den Politikzyklus und noch ein Anwendungsbeispiel! Denn: Das Modell für die Sachanalyse des politischen Unterrichts ist bereits vielfach publiziert und – vom selben Autorenteam – auf andere Anwendungsbeispiele appliziert worden, z. B. auf das Unterrichtsthema “Castor-Transport”. Erst durch die Kombination mit dem Videoband und der CD-ROM erhält das Buch seinen wahren Wert für die fachdidaktische Lehrer(aus)bildung.

Durch die Wiedergabe der beiden Unterrichtsstunden per Video werden die unterrichtspraktischen Auswirkungen des fachdidaktischen Modells auch für lehr-unerfahrene Studierende greifbar. Das Anschauungsproblem der Fachdidaktik in der Hochschulausbildung ist gelöst. Zu dieser Medienkombination ist zwar zu sagen, dass der technische Fortschritt das Medium des Videobandes schon in naher Zukunft entbehrlich machen wird, da dessen analoge Information schon heute in digitaler Form auf DVDs untergebracht werden kann. Dies käme auch der Bedienerfreundlichkeit des Medienpakets zugute. Solange DVD-Laufwerke in Heimcomputern noch nicht die nötige Verbreitung haben, hat diese Dreiheit jedoch ihr gutes Recht. Zu den enthaltenen Interviews ist eine positive und eine kritische Anmerkung zu machen. Positiv ist, dass der Inhalt der Interviews im Buch abgedruckt und als Datei auf der CD-ROM enthalten ist. Während im Buch das gesamte Interview mit einem Interviewpartner in der Sequenz nachgelesen werden kann, sind die Interviews auf dem Videoband gemäß der Fragenkomplexe geschnitten. Das eröffnet prinzipiell die Möglichkeit, drei verschiedene Statements zu einem Diskussionspunkt nacheinander zu hören und ggf. zu vergleichen. Doch die gute Idee wurde zum Teil schlecht umgesetzt. Mit Antworten, die im Extremfall ganze 25 Minuten dauern, wurde diese Chance vertan.

Das Herzstück dieses Medienpakets stellt die CD-ROM dar. “Multimedial” und “interaktiv” – das sind zwei Eigenschaften dieses Mediums, die nicht eigens hervorgehoben werden müssen, weil sie selbstverständlich sind.

Positiv hervorzuheben ist jedoch, wie diese Interaktivität erzielt wurde. Die Auswahlmöglichkeit unter sechs verschiedenen Lernwegen ermöglicht eine Selbststeuerung des Lernprozesses, wie sie mit der Rezeption von Buch und Video nicht gegeben ist. Wohl kaum ein Studierender wird alle sechs Lernwege benötigen, um das fachdidaktische Ziel zu erreichen. Dennoch macht es Sinn, dass die Zielgruppe alle sechs Lernwege vollständig durchschreitet, denn dadurch erwirbt sie fachdidaktische Kenntnisse über sinnvolle Variationen der Lehr-Lern-Sequenz. Es wird deutlich, welches didaktische Variationspotenzial die Sequenzierung der Lerninhalte in der Hand des Lehrers darstellt, der sein Fach meisterlich beherrscht.

Gegenstand der Kritik wird bei vielen Nutzern sicherlich die laienhafte grafische Oberfläche sein, ebenso die gelegentlich störenden, Effekt erhaschenden Animationen.

Man kann – zu guter Letzt – darüber streiten, ob der Politikzyklus das alleinige Schema der Sachanalyse – und damit auch die Planungsgrundlage des Politikunterrichts – sein kann oder zumindest das bevorzugte Schema dafür sein sollte. In Bundesländern, in denen der Politikunterricht sozialwissenschaftlich geprägt ist oder in denen eine gleichberechtigte Kombination von Ökonomie- und Politikunterricht unter dem Dach eines Faches politisch gewollt ist, wird man diese Frage aufwerfen – und vermutlich verneinen – müssen. Doch auch derjenige Fachdidaktiker, der aus guten Gründen ein anderes Modell der Sachanalyse favorisiert, steht – wenn er seinen Studierenden die Möglichkeiten und Grenzen dieses Modells nicht verschweigen, sondern aufzeigen möchte – vor dem eingangs ausgeführten Anschauungsproblem. Kritische Bewertungen der fachdidaktischen Positionen, die in Buch, Video und CD-ROM vertreten werden, stehen jedem Anwender frei.

Fazit: Wer über die laienhafte grafische Gestaltung der “Screens” hinweg sehen kann und mehr Wert auf die fachdidaktische Tiefenstruktur denn auf die optische Lernoberfläche legt, der hält mit diesem “Bundle” aus der “Feder” eines erfahrenen Hochschullehrers einen fachdidaktischen Schatz in der Hand, wie er in dieser Form einmalig ist und Nachahmer finden sollte.

Das Medienpaket kann daher jedem angehenden oder praktizierenden politischen Bildner uneingeschränkt empfohlen werden.

Thomas Retzmann

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