La trace et l’aura. Vies posthumes d’Ambroise de Milan (IVe–XVIe siècle) – BOUCHERON (FR)

BOUCHERON, Patrick. La trace et l’aura. Vies posthumes d’Ambroise de Milan (IVe–XVIe siècle). Paris: Éditions du Seuil, 2019. 533p. Resenha de: HERBERS, Klaus. Francia-Recensio, Paris, v.4, 2020.

Patrick Boucheron legt unter dem zunächst kryptisch wirkenden Titel eine monumentale Geschichte Mailands und des Ambrosiuskultes vor. Erst am Ende seines Buches im »Post-Scriptum« enthüllt er mit Bezug auf Walter Benjamin, was es mit dem Titel auf sich hat. Die Spur (la trace) bedeutet die Erscheinung in der Nähe, und die Aura bedeutet die Erscheinung von etwas Entfernten. Damit ist zugleich das theoretische Spannungsfeld des Autors angedeutet. Patrick Boucheron, der vor allen Dingen mit Studien zum spätmittelalterlichen Italien hervorgetreten ist, will mit seinem Werk verständlich machen, wie die Mailänder im Laufe des gesamten Mittelalters ihre Identität mithilfe der Erinnerung an den heiligen Ambrosius konstruierten und rekonstruierten.

Insofern ist es verständlich, dass er sein Buch mit Fragen der Mailänder kommunalen Verwaltung im späten Mittelalter beginnt, um dann in literarisch brillanter Form auf verschiedene Aspekte der früheren Epochen einzugehen. Hierzu nutzt er vielfältige Methoden, zum Beispiel die klassischen Untersuchungsmethoden der Hagiografie von écriture und réécriture, aber auch Fragen zum remploi, zur Erinnerung in Monumenten, Schriften und Verhaltensweisen. Der Rückbezug auf viele philosophische und soziologische Größen durchzieht den Band. So spielen nicht nur Walter Benjamin und Roland Barthes, sondern auch Jacques Derrida und andere eine wichtige Rolle, um historische Phänomene immer wieder in umfassendere Zusammenhänge einzuordnen.

Mailand ist mit Ambrosius eng verbunden, Ambrosius ist eng mit Augustinus verbunden. Nach kurzen Bemerkungen zur Vita des Ambrosius nimmt Boucheron die Anliegen von Ambrosius und Augustinus, wie sie sich in den Jahren 384 bis 386 manifestierten, in den Blick. Etwas später datiert die wichtigste Vita des Bischofs Ambrosius, die von Paulinus von Mailand verfasst und später immer wieder herangezogen und verworfen, adaptiert und erneut verwendet wurde. Gab es hier also nur eine ganz normale Heiligenvita wie sonst auch?

In einem zweiten großen Abschnitt, den Boucheron mit der »Besetzung der Orte« (l’occupation des sols) überschreibt, geht es um die verschiedenen topografischen Punkte, die in Basiliken und sakralen Bauten das Andenken des Ambrosius dokumentierten, festigten und beispielsweise auch seinen Kampf gegen die Homöer deutlich machten. Basilika und Baptisterium, die Konstruktion eines christlichen Raums in der Stadt, entwickelten sich gleichsam in seinen Worten zu einer »Erinnerungsmaschine« (machine de mémoire). Vieles kulminierte in der Errichtung des goldenen Altars in karolingischer Zeit, der gleichsam die schriftlichen Erinnerungssplitter monumental verdichtete.

Der dritte Abschnitt, eine Geschichte der Zeit des 4. bis 12. Jahrhunderts, betrifft die sogenannten Phantome der Erinnerung an Ambrosius. Hier geht es in einer subtilen Weise zum Beispiel um die Frage, warum Ambrosius in Canossa nicht gegenwärtig und doch gegenwärtig war. Das vierte Großkapitel zeigt, welche verschiedenen Methoden Ambrosius immer wieder am Leben erhielten. Im 13. und 14. Jahrhundert war es die Figur des heiligen Ritters, außerdem die Gestalt des Vorkämpfers für die Freiheit und viele andere Dinge mehr.

In einem letzten (fünften) Abschnitt, der »ambrosianische Anamnesen« genannt wird, geht es um Fragen von Liturgie und die Bedeutung, die Karl Borromäus in der Frühen Neuzeit für Mailand und den ambrosianischen Kult einnahm. Der ambrosianische Ritus – einer der wenigen Sonderriten, die nicht romanisiert wurden – verkörpert bis heute das Selbstbewusstsein Mailands als eigenständiger Wurzelgrund des westlichen Christentums.

Mit dem Buch ist Patrick Boucheron sicher ein großer Wurf gelungen, die Geschichte einer Stadt und einer ganzen Landschaft vom Heiligenkult und dessen verschiedenen Facetten her zu rekonstruieren und zu entwerfen. Fragen der Auseinandersetzungen mit Rom, mit Nordafrika und Augustinus sowie mit der bedeutenden Königsstadt Pavia werden in den verschiedensten Abschnitten deutlich. Auch die einzelnen Parteiungen in der spätmittelalterlichen Kommune beriefen sich in vielfacher Weise allein durch ihre Namen auf den heiligen Ambrosius. Es gibt wenige Kulte, die dies vergleichend in ähnlicher Weise so breit verdeutlichen könnten, nimmt man einmal Petrus und Rom, Jakobus und Compostela, Markus und Venedig aus. Italien ist allein aufgrund der kommunalen Traditionen besonders reich an ähnlichen Beispielen, wie seit den Studien von Hans Conrad Peyer bekannt ist.

Natürlich musste Boucheron manchmal mit einem etwas größeren Pinsel zeichnen, denn die Beobachtungen über mehr als 1000 Jahre können nicht in vollem Maße immer auf eigener Forschung basieren. Der Autor bietet aber einen ausgesprochen erfrischenden Blick auf den ambrosianischen Kult, der von Fragen zur mailändischen Kommune im 14. und 15. Jahrhundert ausgeht. Insofern bietet das Mailand dieser Zeit dem Autor gleichsam eine Art Plattform, von der aus er die verschiedenen Sondierungen unternimmt und damit zeigt, was historische Arbeit bedeutet. Denn die Kontextualisierung eines Kultes in den verschiedenen Epochen zeigt eindrücklich, wie sehr das Mittelalter sich selbst durch diese Heiligenkulte verschiedene Identitäten konstruierte, verwarf und anverwandelte.

So liefert Boucheron auch einen Beitrag zur generellen Frage, wie lebendig und wie wirkmächtig Heiligenkulte waren. An einer Stelle bemerkt er gleichsam am Rande, dass die Humanisten die Antike als Vergangenheit erfunden hätten und damit das Material vernichteten, das im Mittelalter immer wieder verwendet, verändert, neu kontextualisiert und »konvertiert« worden sei (S. 28). Konversion bedeutet für ihn zugleich eine Form der Mission (S. 26). Diese und andere Facetten des Umgangs mit einem lebendigen Erinnerungsmaterial hat uns Boucheron in seinem monumentalen Werk bestens vorgeführt.

 Klaus Herbers – Erlangen

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Como se revoltar? | Patrick Boucheron

Em seu conhecido Sobre o conceito da história2, Walter Benjamin alertava para os riscos de uma percepção teleológica do tempo histórico — para ele, “articular historicamente o passado não significa conhecê-lo ‘como ele foi’” (BENJAMIN, 1987, p. 224). Nesse sentido, o afastamento do tempo presente carrega consigo, em geral, a dificuldade progressiva de exercitar a alteridade — quanto mais nos distanciamos daquilo que nos é familiar, maior é o movimento necessário para amenizar o estranhamento. Pensar a Idade Média, assim, exige um deslocamento por vezes impossível, dado que um imaginário escolar, impreciso e tortuoso, já há tempos coloniza nossas tentativas de aproximação ao Medievo.

A partir disso, num esforço de arejar a relação do contemporâneo com o medieval, o historiador francês Patrick Boucheron3, no ensaio-conferência Como se revoltar?4, publicado em 2016 na França e lançado em 2018 no Brasil, caminha no sentido de romper com esse imaginário — se não falso, ao menos incompleto — da dinâmica social medieval. À quase-abstração necessária para se pensar a Idade Média, Boucheron opõe a universalidade da experiência da juventude, a qual é indissociável, ele diz, da experiência da revolta. Leia Mais

Ce que peut l’histoire. Leçon inaugurale au Collège de France – 17 décembre 2015 | Patrick Boucheron

Patrick Boucheron, spécialiste du Moyen Âge et de la Renaissance, plus particulièrement en Italie, a été nommé à la chaire d’Histoire des pouvoirs en Europe occidentale, xiiie-xvie siècle, comme pro­fesseur titulaire au Collège de France depuis la rentrée 2015, avec une leçon inaugurale intitu­lée « Ce que peut l’histoire ». Pour les enseignants d’histoire et leurs élèves, c’est l’exemple d’un historien savant qui met à leur disposition une Histoire-Monde bousculant les périodisations et les approches entendues, pour une meilleure intel­ligibilité du présent par le recours aux ressources du passé.

Dans les années 1330, la Commune de Sienne est mise en péril par la « seigneurie », ce pouvoir personnel qui subvertit les principes républi­cains de la cité. Comment contrarier la tyrannie, asphyxier le foyer de la guerre et réapprendre l’art de vivre ensemble ? La commune politique doit convaincre: le meilleur gouvernement n’est pas la sagesse des préceptes qui l’inspirent, mais ses fruits concrets, tangibles pour chacun. Ces aspects étu­diés dans un ouvrage paru en 2013 emblématisent la position de l’intellectuel1.

Une leçon inaugurale est un exercice convenu, avec ses passages obligés. Mais cela ne suffit pas au chercheur, à l’expression bien choisie. Il conver­tit le moment en credo: l’Histoire ne doit pas se contenter de relater la manière dont les pouvoirs se sont ancrés (les rois, la formation des États), mais aussi – et surtout – évoquer les tentatives expérimentales d’une autre organisation de la cité, même si elles ont échoué. Ces « expérimen­tations politiques », fourmillantes dans l’Italie des Trecento et Quattrocento, l’historien s’y montre attentif. Elles lui disent d’autres mondes possibles: « Ce que peut l’histoire, c’est aussi de faire droit aux futurs non advenus, à ses potentialités inabouties. »

Après les attentats qui ont choqué la France, Patrick Boucheron s’exprime en citoyen. Dans un engagement renouvelé, il convie à la vigilance contre de funestes usages civiques, transformés en artillerie politique inhumaine ou en appareil de répression. Il reprend une pensée centrale dans consacré à Sienne: « Avoir peur, c’est se pré­parer à obéir. »

Que peut l’histoire pour aujourd’hui ? L’interrogation l’habite. Le professeur cite Michel Foucault, avivant sa « mise en alerte toujours brûlante qui per­met de se prémunir contre la violence du dire, de ne pas se laisser griser par sa puissance injuste », mais aussi Victor Hugo et sa foi dans la chose publique: « Tenter, braver, persister, persévérer, être fidèle à soi-même, prendre corps-à-corps le destin, étonner la catastrophe par le peu de peur qu’elle nous fait, tan­tôt affronter la puissance injuste, tantôt insulter la victoire ivre, tenir bon, tenir tête, voilà l’exemple dont les peuples ont besoin et la lumière qui les électrise. » Rien n’est plus mortifère que de réduire l’Histoire à une machine à confectionner des démonstrations de désespoir. « Comment se résoudre à un devenir sans surprise, à une histoire où plus rien ne peut survenir à l’horizon, sinon la menace d’une conti­nuation ? Ce qui surviendra, nul ne le sait. »

Son ambition ? Rendre le passé habitable, repla­cer l’histoire dans le débat intellectuel, la rendre tonique, réconcilier érudition et imagination, opposer une histoire sans fin aux chroniqueurs de la fin de l’Histoire, bousculer les divisions tempo­relles (« Une période est un temps que l’on se donne »), réorienter les sciences sociales, et surtout rafraîchir les problématiques du passé en les mettant en réso­nance avec celles du présent.

Pour Boucheron, la Renaissance n’est qu’un épi­sode dans une séquence plus ample: il observe les continuités entre les xiiie et xvie siècles. Adoptant le point de vue de l’histoire globale, il avait repéré dans le xve siècle une invention du monde2. De Tamerlan à Magellan, des steppes de l’Asie jusqu’à la saisie de l’Amérique en 1492, s’est accomplie une première mondialisation. Mais la geste de Christophe Colomb est tout sauf une aventure fortuite: elle est précédée, rendue probable et pensable, par une dynamique globale et séculaire d’interconnexion des espaces, des temps et des savoirs. Elle ne se laisse en rien délimiter par ce que l’on baptisera l’occidentalisation du monde: les commerçants de l’océan Indien, les marins de l’amiral Zheng He partis du fleuve Bleu, mais aussi les envahisseurs turcs, ont un plein rôle dans cette geste des devenirs possibles du monde, où rien n’est encore inscrit.

Militant, il convie à revisiter ses certitudes, son confort intellectuel, prétendant rechercher les moyens de « réconcilier en un nouveau réa­lisme méthodologique l’érudition et l’imagination. L’érudition car elle représente cette forme de préve­nance dans le savoir qui permet de faire front à l’en­treprise pernicieuse de tout pouvoir injuste consistant à liquider le réel au nom des réalités. L’imagination, car elle est une forme de l’hospitalité et nous permet d’ac­cueillir ce qui dans le sentiment du présent aiguise un appétit d’altérité ». En cette période où le dialogue interculturel est en terrain défavorable, le propos doit être souligné. Et l’historien, revendiquant son statut de pédagogue, d’affirmer qu’il « faut se donner la peine d’enseigner […] pour convaincre les jeunes qu’ils n’arrivent jamais trop tard. Ainsi, travaillera-t-on à demeurer redevable à la jeunesse ».

[Notas]

1 Boucheron Patrick, Conjurer la peur. Sienne, 1338: essai sur la force politique des images, Paris: Seuil, 2013, 285 p.176 | Didactica Historica 2 / 2016 le livre

2 Boucheron Patrick (dir.), Histoire du monde au xve siècle, Paris: Fayard, 2009, 892 p.

(*) Voir: Truong Nicolas, « Ce que peut l’histoire », extraits de la Leçon inaugurale de Patrick Boucheron au Collège de France, in Le Monde, 02-04.01.2016.

Postface des extraits du Monde: prononcée le 17 décembre 2015, la Leçon inaugurale de Patrick Boucheron est téléchargeable en format audio et vidéo sur le site du Collège de France (http:// college-de-france.fr). Elle sera publiée sous forme numérique sur OpenEdition Books (http://books. openedition.org/cdf/156) et sous forme imprimée (coédition Collège de France/Fayard) au prin­temps 2016.

Pierre Jaquet – Gymnase de Nyon.

BOUCHERON, Patrick. Ce que peut l’histoire. Leçon inaugurale au Collège de France – 17 décembre 2015.* Resenha de: JAQUET, Pierre. Didactica Historica – Revue Suisse pour l’Enseignement de l’Histoire, Neuchâtel, v.2, p.175-176, 2016. Acessar publicação original

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